Montag, 28. Januar 2008

Das erste Mal Wismar

Hardy Riedel

Im Frühsommer 1978 hatte die „Eisenberg“ in Wismar festgemacht. In diesem Jahr war dies ihre erste Liegezeit in Wismar. Ich, Vollmatrosenlehrling im zweiten Lehrjahr, nutzte die Freiwache für einen ersten Erkundungslandgang. Die Stadt betrat ich durch das alte Wassertor am Hafen. Völlig ohne Ortskenntnisse fand ich schon bald den Marktplatz, den ich in seinem ganzen Umfang einmal ablief. Dieses Ritual diente der Orientierung. Ich wusste jetzt wo ich war und in welche Richtung ich weitergehen wollte. Meine Wahl fiel auf die Straße, die sich genau am Entgegengesetzten Ende vom Ausgangspunkt meiner Runde befand.
Hier endete schon nach kurzer Zeit meine Erkundung vor einer eher unscheinbaren Milchbar.
Nichts ahnend trat ich ein.
Etwas verräuchert, das Licht im ersten Moment schummrig, erkannte ich erst recht spät den
E - Mix meines Schiffes.
Er, alles andere als ein Kind von Traurigkeit, hatte sich schon in aller Frühe nach Rostock zur regelmäßigen Seetauglichkeits- Untersuchung aufgemacht.
Jetzt sah ich ihn hier in einer Milchbar vor einem Glas Milch sitzend. Jedoch wirkte er wie immer, etwas angetrunken.
Da stimmte etwas nicht.
Unsicher grinsend trat ich an seinen Tisch und versuchte einen Scherz: „Hat dir der Arzt endlich den Alkohol verboten?“
„Pah!“ winkte er ab, „Das glaubst auch nur du, Saustift!“
Nebenbei hatte er aus seiner Lederjacke einen zerknüllten Zehnmarkschein herausgefischt und wedelte damit vor meiner Nase herum. Mit der anderen Hand führte er sein Milchglas zum Mund und kippte den restlichen Inhalt in einem Zug herunter.
Jetzt lallte er: „Hol mal zwei Träume bei Muttchen!“
„Zwei Träume bei Muttchen“ Das klang wie die obligatorische Lehrlingsverarsche.
In der Nähe der Bar schnappte ich dann doch die Wörter „Träume“ und „Muttchen“ auf. Also war doch etwas dran.
Erst jetzt rief ich jener Frau, die ich nun für „Muttchen“ hielt, „zwei Träume“ zu.
Mit zwei Gläser Milch und wenig Wechselgeld kam ich zum Tisch zurück. Der E-Mix schien zufrieden zu sein.
„Prost!“ die Gläser krachten zusammen. Er nahm einen tiefen Schluck, ich nahm einen tiefen Schluck. Erst jetzt wurde mir klar, die zwei Gläser Milch waren inhaltlich nicht, wie vorher geglaubt, zu teuer. Vielmehr hatte ich für mich den Weißen Traum entdeckt.

Für immer abgemustert

Hardy Riedel

Im September 1976 begann ich meine Lehre bei dem damaligen VEB Deutfracht/Seereederei Rostock. Meine Ausbildung erfolgte zunächst landseitig in der BS Flotte in Rostock, später dann auf dem damaligen Lehrschiff MS GEORG BÜCHNER. Das zweite Lehrjahr und die Ausbildung zum Vollmatrosen M oder Maschinenassistent erfolgte auf MS EISENBERG. Im Jahre 1978 schloss ich meine Lehre ab und fuhr anschließend als Maschinenassistent auf Schiffen im Flottenbereich „Spezial“. Ein bis dahin ganz normaler Werdegang beim VEB DSR.Ich lernte meinen Beruf immer besser kennen und lieben und schmiedete bereits Pläne für mein berufliches Fortkommen. Einer guten Zukunft stand scheinbar nichts im Wege.

Bis zum Oktober 1982. Da stürzten nicht nur meine beruflichen Pläne wie ein Kartenhaus zusammen, sondern es wurde auch meine gesamte Existenz bis in die Grundmauern erschüttert.
Was war geschehen?Meine Mutter war nach einer Besuchsreise in Frankfurt a.M. nicht zurückgekehrt.


Ich befand mich zu dieser Zeit auf MS HEINRICH HEINE.

Seit Juni 1982 gehörte ich dort zur Besatzung. Wir waren gerade auf einer Reise nach Klaipeda (Litauen), also ziemlich weit östlich oder rechtsherum, wie wir Seeleute immer dazu sagten.
Mit einer Ladung Schweinehälften lagen wir im Hafen von Klaipeda. Da wurde ich am Vormittag des 13. Oktober 1982 zu Kapitän Wolfgram gerufen. Er hatte ein Telex der Reederei erhalten, in dem die Weisung stand, mich umgehend an Bord des MS VOCKERODE zurück nach Rostock zu schicken. Der plötzliche Rückruf überraschte und beunruhigte mich gleichermaßen. Das konnte nichts Gutes bedeuten, zumal Kapitän Wolfgram ebenfalls keine Erklärung hatte. Er versuchte mich mit einer eventuell bevorstehenden Einberufung zur Armee zu beruhigen. Aber damit lag er weit daneben, wie sich schon bald an Bord des MS VOCKERODE herausstellen sollte. Auf Reede Warnemünde saß ich mit anderen Besatzungsmitgliedern in der Messe, als der Bordfunker kam und mir sagte, ich hätte mich am nächsten Tag im Flottenbereich, Zimmer 18, einzufinden. Alle sahen sie mich jetzt mitleidig an. Jeder wusste, was das bedeutete.
Nie werde ich den Zynismus vergessen, mit dem mich dort diese berühmt berüchtigte Frau vom Wegbleiben meiner Mutter in Kenntnis setzte und mit welchem Genuss sie mir dann das Seefahrtsbuch entzog.

Jetzt war ich ein so genannter Hafenspringer. Viele werden wissen was das bedeutete. Ich war Hafenspringer, zumindest bis Ende des laufenden Jahres. Der VEB DSR hätte sonst bei einer erzwungenen Kündigung vor Ablauf der Jahresfrist in seiner „Großzügigkeit“ meinen Anspruch auf Jahresendprämie gestrichen.
Von nun an mussten ich und meine Familie mit jedem Pfennig rechnen.
Nie werde ich die Rosenbeete vor dem Reedereigebäude vergessen, die ich als Springer von Unkraut befreien musste. Ich werde nicht vergessen, wie ehemalige Schiffskameraden vorbeikamen und mich nach meinem Berufswechsel zum Gärtner befragten.
Ich werde die Nacht nicht vergessen, in der ich nicht wusste, wo ich schlafen sollte, nachdem man mich von dem Schiff, auf dem ich tagelang Kohleluken gefegt hatte, am späten Nachmittag herunterwarf.
Im Springerbüro hatte man längst Feierabend gemacht. Niemand vermittelte mir ein neues Schiff, auf das ich „springen“ konnte. Niemand vermittelte mir ein Bett im ständig belegten „Haus Sonne“.
In dieser Zeit musste ich nochmals zu dieser Frau - eine Kollegin von ihr war ebenfalls anwesend.
Man sagte mir jetzt ganz offen, dass ich mein Seefahrtsbuch in meinem ganzen Leben nicht mehr zurückerhalten würde. Also, - für immer. Ich wurde zur Kündigung gezwungen, „im beiderseitigen Einvernehmen“, wie es später hieß.
Vergessen werde ich auch nicht die Suche nach einer neuen Arbeit in meinem damaligen Heimatort Zwickau. Es gab mehrere Betriebe die mich eingestellt hätten. Als sie jedoch den Grund meiner betrieblichen Veränderung hörten, nahmen sie sehr schnell Abstand von einer Einstellung. Es war, als hätte ich ein „Kain-Zeichen“ auf der Stirn. Selbst das Reichsbahn Ausbesserungswerk Zwickau brauchte nach anfänglichem Interesse plötzlich nur noch einen Koch.
Aber ein anderer Betrieb stellte mich letztendlich doch ein. In einem Zeichenbüro für 530,- M Netto im Monat.
Von heute auf morgen musste ich mich als Seemann, der mit Herz und Seele dabei war, auf ein Landleben unter denkbar ungünstigsten Bedingungen einstellen. Bekannterweise fällt dies allen Seeleuten schwer, selbst wenn sie den Umstieg aufs Landleben lange und gründlich vorbereitet haben.
Trotz all dieser widrigen Umstände hatte ich ein berufliches Fortkommen noch nicht vollständig aus den Augen verloren. Ich wollte mich jetzt in meinem neuen Umfeld beruflich weiterentwickeln. Fortan bemühte ich mich um ein Fachschulstudium auf dem Gebiet des Stahlbaus.
Dabei erfuhr ich sogar die Unterstützung meiner nächsten Vorgesetzten.
Diesmal gab mir das Wehrkreiskommando diese Unterstützung nicht, denn ich sollte jetzt erst einmal meinen Wehrdienst ableisten. Mit 25 Jahren wurde ich zum Wehrdienst einberufen. Für mich war jetzt meine berufliche Laufbahn endgültig den Bach runter.
Nachdem ich dann mein „Vaterland“ beim Schwarzaufwasch in einem Offizierskasino verteidigen durfte, galt es anschließend den Lebenserhalt meiner Familie finanziell zu sichern. Ich arbeitete als Betriebsschlosser wieder in dem Betrieb, wo ich vorher als Zeichner tätig sein konnte. Nun folgte eine Zeit in der ich als „sozialistischer Helfer“ ins RAW Zwickau zwangsdelegiert wurde. Plötzlich war ich dort gefragt, - obwohl kein Koch. Es vergingen weitere fünf Monate, von August bis Dezember 1986, mit niedrigen Hilfsarbeiten in der Containerreparatur.
Während dieser Zeit standen in fast allen Zeitungen Anzeigen, in welchen der VEB DSR fahrendes Personal suchte. Neue Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht gab man mir noch diese Chance. Ich bewarb mich.
Ich vergaß aber dabei, dass man mir schon 1982 sagte, dass ich nie wieder ein Seefahrtsbuch erhalten würde. Die Ablehnung empfand ich nur noch als Hohn. Ich hatte die Qualifikation, aber man stellte lieber ungelernte Leute ein. Form und Inhalt des Bescheids waren eine einzige Provokation. Ich ließ nicht locker und bekam eine weitere Absage. Wieviel Ungerechtigkeit kann ein Mensch ertragen?
Für mich war jetzt das Maß voll. In diesem Land, das mein Vaterland sein wollte, hatten meine Familie und ich nichts mehr verloren.
Am 29. Dezember 1986 stellten wir den Antrag auf „Genehmigung zur Änderung unseres Wohnsitzes und ständigen Aufenthaltes von der DDR in die Bundesrepublik Deutschland, sowie auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR“.
Kurz gesagt, wir stellten den Ausreiseantrag und wurden somit zu einem der Steine, die losrollten und die Lawine auslösten, die schließlich zum Fall der Mauer und dem Ende der DDR führte.
Am 22. März 1989 siedelte ich mit meiner Familie aus der damaligen DDR in den „Westen“.
Zwei Jahre Nervenkrieg, zwei Jahre Gradwanderung zwischen Gefängnis und Freiheit waren vorbei.
Im September 1991 erreichte mich an meinem Wohnort in den alten Bundesländern die Mitteilung, dass es bei der DSR Rehabilitationsverfahren und Entschädigungen für Seeleute gäbe, die aufgrund von politischen Entscheidungen ihren Beruf in der DDR-Zeit nicht mehr ausüben durften.
Am 23.9.1991 schrieb ich einen Brief an die Deutsche Seereederei GmbH und stellte meine Forderung, ein solches Rehabilitationsverfahren durchzuführen.
Am 22.10.1991 erhielt ich ein Antwortschreiben - mit der gleichen Kälte und dem gleichen Zynismus wie ich es schon aus DDR-Zeiten kannte. Zorn steigt immer noch dann in mir hoch, wenn ich lese: „Die Betriebsleitung des VEB DSR hatte sich aus Gründen der Kulanz Ende 1989 entschieden, für Seeleute, die infolge politischer Entscheidungen durch den Entzug ihres Seefahrtsbuches den Beruf nicht mehr ausüben konnten, ein betriebliches Rehabilitationsverfahren durchzuführen. …Das betriebliche Verfahren war zeitlich bis zum 2.10.1990 begrenzt.“ Wie kann man solch einen Anspruch in solch einer Kürze begrenzen? Waren der Entzug meines Seefahrtsbuches und die Folgen etwa auch zeitlich begrenzt?
Da mich die Nachricht über laufende Rehabilitationsverfahren eher zufällig erreichte, stellt sich mir die Frage: „War es Absicht, dies nicht bundesweit publik zu machen? Wollte man das Mäntelchen der Wiedergutmachung billig erkaufen? Diese Maßnahme war bestimmt nicht ehrlich gemeint!
Am 7. 11. 1991 schrieb ich wieder an die DSR GmbH, erhielt aber keine Antwort mehr.
Man war sicherlich wieder zur Tagesordnung übergegangen. Der Betrieb war billig übernommen, das Geschäft war getätigt, - um die Altlasten sollten sich andere kümmern. Die Deutsche Einheit war zwar vollzogen, aber leider nur auf dem Papier, bei der DSR, genau wie in den meisten der anderen „alten“ Betriebe.
Der erste Schritt zur Deutschen Einheit sollte Vergangenheitsbewältigung und nicht Vergangenheitsverdrängung sein.
Nach 17 Jahren ohne Seefahrt heuerte ich 1999 auf der „Deutschland“ an. Als Plumper, - ich hatte ja vorher nie ein richtiges Patent machen können.
Dort traf ich dann auch auf viele ehemalige DSR-Kollegen.
Arglos erzählte ich meine Geschichte. Da wurde, für Unbeteiligte sicher kaum zu verstehen, aus Kollegialität plötzlich Ablehnung, - auch hier Vergangenheitsverdrängung statt Vergangenheitsbewältigung??? -. Meine letzte Chance, wieder in meinem Traumberuf arbeiten zu können, war verwirkt.
Aber, eine Genugtuung bleibt mir, ein Seefahrtsbuch befindet sich heute wieder unter meinen Papieren.
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